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2. Wenn der Fluss steigt, frisst der Fisch Ameisen

Der Chao Phraya und die Klongs bestimmen in der thailändischen Hauptstadt den Lebenskreislauf der Menschen

Noi platziert auf dem bunten Dämonentempelchen ein mit Wasser gefülltes Glas. „Wasser ist Leben“, sagt sie feierlich, legt die Hände vor der Brust zum Wai, den in Thailand üblichen Gruß, aneinander und verbeugt sich. Je weiter die Fingerspitzen zum Kinn hin reichen, desto größer die Ehrerbietung gegenüber dem Geist, der in dem Sarpra Phum wohnt und der wahre Besitzer eines Platzes ist. Ohne „Geisterhaus“ oder wenigstens einen kleinen Altar gibt es selbst in der Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole Bangkok kein Gebäude, keine Wohnung und kein Bordell. In allen häuslichen Angelegenheiten ruft Noi ihren Ortsgeist an, und diesmal reichen die Fingerkuppen sogar bis zur Nasenspitze. Wortlos bittet sie ihn, ihre Orchideenzucht von den Wolkenbrüchen der Regenzeit diesmal zu verschonen.

Blumen haben im Alltag der Thais einen hohen Rang wie ein Lebensmittel: sie sind unentbehrliche, hochkarätige Glücksbringer. Überall tauchen Orchideen, Jasmin, Lotus und andere Blüten auf: in Unheil abwehrenden Blumenamuletten, als Opfergabe in den Tempeln, als Dekor auf Thai-Seide, als Tätowierung auf nackten Schultern oder auf den Kopfkissen der Luxushotels. „Wenn wir Wasser sehen“, sagt Noi, „wissen wir, dass es genug zu essen gibt – Fisch und Fleisch. Wasser ist Leben - aber in der Regenzeit zwischen Mai und September, wenn der Südwestmonsun dem ganzen Land schwere Niederschläge beschert, kann es manchmal ein bisschen viel werden. 

Auch bei der Fahrt durch die Klongs, die zahlreichen Wasserkanäle, die die Stadt durchziehen, bekommt man die universale Bedeutung von Wasser und Leben hautnah zu spüren. Wasser ist wie ein Enzym, mit dem man sich Herz und Seele Bangkoks erschließt. Der Fluss Chao Phraya durchtrennt die Stadt in zwei Welten: diesseits das moderne Bangkok mit himmelstürmenden Bürotürmen, farblosen Wohnblocks und einem hoffnungslosen Verkehrschaos, jenseits das länd­liche, ursprüngliche, unbeachtete. Mitten in diese Welt hinein führen die zahllosen Wasserstraßen.

Auch an der Spitze von Poms Long-Tail-Boot hängen mindestens vier Blumenketten. „Ohne sie gehe ich nicht aufs Wasser“, versichert der 32-jährige Bootsführer fast beschwörend. Sobald sie den Ansatz des Verblühens zeigen, hänge er neue Blumenamulette auf. Mit fünfzehn nahm er zum ersten Mal das Ruder des knatternden LKW-Motors in die Hand. Seitdem schippert er Touristen durch die Klongs, die einem die ganze Bandbreite der 10-Millionen-Stadt vorführen – von vergoldeten Tempeln und Palästen bis zu Slums, farbenfrohen Märkten und unansehnlichen Industrieanlagen. Altes und Neues mischt sich zu einem Panorama, in dem sich Alltägliches, Exotisches und Sinnliches trifft.

Obwohl das überdachte Boot mit den honigfarben lackierten Sitzbänken bequem aussieht, melden sich nach einigen Wellenritten auf dem Chao Phraya bald Wirbelsäule und Beckenknochen. Long-Tail-Boote, Barkassen, Schlepper, Hotel-Shuttles und Fähren, mit denen man vom einen zum anderen Ufer übersetzen kann, bringen den breiten Fluss ganz schön in Bewegung. Die Gischt spritzt noch über die schmale Schutzplane.

Pom biegt in den Klong Mon ein. Das ist wie Szenenwechsel im Theater. Abrupt wird es still. Abseits des dynamischen Nervenzentrums präsentiert sich ein seltsames Nebeneinander von ärmlichen Holzlattenbauten mit Wellblechdach, schäbigen Hausbooten, prächtigen Villen, kleinen Tempeln, dampfenden Garküchen und offenen Regalläden. Das feuchtheiße Klima bringt eine wild wuchernde Vegetation von Wasserhyazinthen, Seerosen, Schlingpflanzen, Kokospalmen, Bananenstauden und Mangobäumen hervor. Man kann sich nicht satt sehen. Tonkübel mit den unterschiedlichsten Orchideenarten, Bougainvilleas und Jasmin reihen sich auf den Holzterrassen der Pfahlhütten. Alle Wohnstätten sind mit einem Anlegesteg und natürlich auch mit einem Geisterhäuschen ausgestattet. „Es steht ganz dicht am Wasser“, erläutert Noi, „denn wir Buddhisten glauben, dass das Wasser uns ins Reich der Toten und zum Nirwana führt.“

Zerbrechlich balancieren Holzhäuser und Bambushütten auf Stelzen, um die Bewohner vor dem Hochwasser zu schützen. Hier baumeln Wäschestücke an einer Leine, dort trocknen sie auf Bügeln am Garderobenständer vor der Hautür. In der Garage nebenan parkt ein Long-Tail-Boot. Kinder baden im Kanal, die Mutter spült darin Geschirr, Großvater döst in einem Schaukelstuhl auf der überdachten Veranda – man lebt eng miteinander. Hinter einem Bretterverschlag lugt neugierig eine Greisin hervor, als sie Poms tuckernden Motor kommen hört. Eine andere fährt im dickbauchigen Sampan-Boot heiße Suppe aus: mit einer Großküchenkelle schöpft sie aus dem riesigen Aluminiumtopf in der Bootsmitte und gießt den Inhalt in die Schüsseln, die ihr entgegengestreckt werden. Ein kurzer Schwatz - dann fährt sie weiter. Ein seetüchtiger Briefträger legt Post in dem ausgedienten Kanister ab, der in Armhöhe an den Steg genagelt ist und ehemals Motoröl enthielt. Ein junger Mönch in safrangelbem Gewand kühlt seine Zehen im Wasser. Alltag in den Klongs.

„Wenn man am Wasser lebt, lebt man ruhiger“, philosophiert Noi vor sich hin, während Pom in den Klong Bangchuck Nang einbiegt. „Das Tempo des Flusses ist ein gutes Tempo.“ Nam, was Wasser bedeutet, symbolisiert für die Thais Ruhe, Gelassenheit und Geduld - eigentlich auch Reinheit, was jedoch nicht für das Klong-Wasser gilt. Verschmitzt fügt Noi hinzu: „Die Deutschen haben die Uhr, wir haben die Zeit.“ Wenn man an das hektische, fortschrittsgläubige Bangkok jenseits des Chao Phraya denkt, kommen einem Zweifel; wenn man Menschen wie Noi näher kennt, dann nicht.

Die Gelassenheit, die der Buddhismus lehrt, lässt sich in allen Lebenslagen beobachten. Schon auf der Schulbank lernen die Kinder Bescheidenheit, Entsagung und Demut, und ein mindestens mehrwöchiger Klosteraufenthalt im Leben der Männer gehört zum guten Ton. Zufriedenheit definiert sich nicht über den Besitz materieller Güter, obwohl diese im kapitalistisch orientierten Thailand freilich nicht verachtet werden. Sie geht mit dem Bewusstsein über die vergängliche und unvollkommene Existenz des Menschen einher. Das Leben wird als nie endender Kreislauf von Tod und Wiedergeburt gesehen, der ständig neue Leiden produziert, eine Art göttlicher Fügung. Der Mensch ist nur ein unbedeutendes Glied im ganzen Spiel. Nur die Überwindung des Begehrens, sagt Gautama Buddha, setze dem Leiden ein Ende und führe ins Stadium der Erleuchtung, ins Nirwana.

„Um Nirwana näher zu kommen, müssen wir Gutes tun“, erläutert Noi. Je mehr gute Werke und Opfergaben, desto größer die Chance, nicht als Tier oder Pflanze, sondern als Mensch wiedergeboren zu werden, was die Leiden schon mal erheblich verringere. Dadurch hat sich ein gigantisches Verdienst- und Opfergabesystem entwickelt. Heutzutage sei es mit den Tugenden nicht mehr allzu weit her, bedauert Noi. „Wenn wir etwas tun, was Buddha nicht gefällt, sagen wir schon mal, dass Buddha die Augen gerade geschlossen hat.“

In den Klongs ist es über weite Strecken einfach nur still. Das Wasser wirkt dickflüssig und milchig. Die Oberfläche ist spiegelglatt, bis Poms Boot ratternd Wellen schlägt. Fliegende Händlerinnen mit hübschen Bambushüten paddeln im Gegenverkehr - wie auf allen Straßen herrscht auch hier Linksverkehr. Pom drosselt den Motor, damit sie mit ihrem Sampan-Boot andocken können. Sie verkaufen staudenweise Bananen für 15 Baht (ca. 1 Euro), aber auch Pomelos, grüne Mangos oder Kokosnüsse – Preise nach Saison und solange der Vorrat reicht. Angeln scheint in den Klongs ein Volkssport zu sein. Pom zieht aus seiner Tasche eine Handvoll Brotkrumen und wirft sie ins Wasser. Sofort stürzt sich eine Horde von karpfengroßen Katzenfischen auf die leichte Beute – auch Pom bräuchte eigentlich nur zuzugreifen.

Je weiter das Boot sich vom Chao Phraya entfernt hat, desto enger, dschungelartiger und dunkler ist es geworden. Agentenstories fallen einem ein. Irgendwo hier muss sich Roger Moore als James Bond 007 im Film „The Man with the Golden Gun“ eine nervenaufreibende Verfolgungsjagd geliefert haben. Die heutige Tour ist zum Glück nur halb so stürmisch, obwohl Pom von seinen Künsten und der Höchstleistung von 60 Kilometern in der Stunde durchaus gern Gebrauch macht. Die Klong-Tour endet hinter einer Biegung, und plötzlich ist man wieder im Bann der Wolkenkratzer-Skyline mit seiner unwiderstehlichen Präsenz.

Erst jetzt wird man gewahr, dass auch der asiatische Gigant eine dem Wasser immer noch stark zugewandte Stadt ist. Am breiten Chao Phraya pocht das Herz der Nation. An den Ufern wurde die Stadt gegründet, hier liegen die großen Luxushotels, wie etwa das weltberühmte „Oriental“, das „Shangri-La“ oder das „Peninsular“, und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Altstadt. „Der Fluss hat im Alltagsleben und in den Herzen der Thais einen festen Platz“, sagt Noi, auch wenn er an manchen Stellen eine stinkende Kloake sei. Viele Thais sehnen sich nach einem Logenplatz mit Flussblick, den jedoch kaum einer bezahlen kann. „Am Wasser leben“, bringt Noi die Sache auf den Punkt, „bedeutet reich sein. Auf dem Wasser leben, bedeutet arm sein.“

Jahrhunderte lang diente der Chao Phraya den Herrschern als Handelsweg und Verteidigungslinie, weshalb er „River of Kings“ genannt wurde. Alles Leben spielte sich auf dem Wasser ab. Selbst „schwimmende Märkte“ gab es, von denen heute nur noch einer auf dem Klong Damnoen Saduak, etwa 70 Kilometer östlich von Bangkok, abgehalten wird. Die Könige wählten für ihre Stadtgründungen Flussbiegungen, in denen sie einen Kanal aushoben, so dass in der Mitte eine künstliche Insel für die Königsstadt und weitere Wasserwege entstanden. Auch Bangkok wurde auf diese Weise gegründet, was der Stadt den Ruf des „Venedig des Fernen Ostens eintrug. Auch die wichtigsten Feste und Feierlichkeiten finden am und auf dem Fluss statt, wie etwa der Geburtstag von König Bhumibol, der am 5. Dezember dieses Jahres  mit besonders großem Aufwand gefeiert wird, weil sich an diesem Tag der sechste astrologische Zwölfjahreszyklus vollendet.

Das auf Hochtouren schlagende Herz eines asiatischen Wirtschaftsunders hat schon mancher Skeptiker den Infarkt vorausgesagt. Seine blitzartige Karriere erlebte erst vor gut 200 Jahren. Noch 1767 war „Bang Makok“ ein kleines Fischerdorf inmitten des weiten Schwemmlandes der Chao Phraya-Mündung. Der Mittelpunkt des strahlenden, kriegerischen Thai-König­rei­ches lag in Ayutthaya, gut 60 Kilometer weiter im Norden. Die Stadt wurde 1351 gegründet und war 400 Jahre lang die unermesslich reiche Hauptstadt des alten Siam. Der erste König Ramathibodi übernahm von dem hoch entwickelten Nachbarvolk der Khmer nicht nur das Prinzip des Gottkönigs, sondern auch ihre Architektur. Innerhalb weniger Jahre unterwarf er die nördlichen Reiche Zentralsiam und Sukothai. Die Nachfolger zogen siegreich gegen Chiang Mai und Kambodscha zu Felde, und die Thai-Herrschaft dehnte sich immer weiter aus. Der Ruf des Geheimnisvollen und Faszinierenden eilte dem Land voraus.

Wie früher die Könige in ihren Drachenbooten, nur ungleich bequemer, nähern sich die Flusskreuzfahrer der einstigen Kapitale heute von der Wasserseite. Nach gut dreieinhalb Stunden steht man vor den Ruinen aus der alten Blütezeit, dem Wat Yai Chai Mongkol, dem Wat Chai Wattanaram, Wat Sri Samphet und dem alten Königspalast, wo mächtige Buddhas und Khmertürme die Blütezeit in Erinnerung rufen. Fußmüde können die alten Herrschaftsstätten auch per Elefant erkunden.

Ayutthaya fiel 1767, weil es hochmütig geworden war, meint Noi. „Wenn der Fluss steigt, frisst der Fisch Ameisen.“ Fragende Blicke haften auf ihr. Noi merkt, sie muss den Langnasen die thailändische Parabel erklären: „In der Trockenzeit labt sich die Ameise am sterbenden Fisch. Wenn zur Regenzeit das Wasser steigt, decken die Ameisen den Tisch für die Fische. Für jeden kommt irgendwann die Zeit - im Guten wie im Schlechten.“ Mit der Zerstörung Ayutthayas schlug jedenfalls die Stunde Bangkoks. Das Königshaus wechsel­te zwar erst provisorisch nach Thonburi am sumpfigen Westufer des Chao Phraya, gab aber schon 1782 der gegenüberliegenden Seite den Vorzug. König Rama I. nannte die neue Hauptstadt Krung Thep - „Stadt der Engel“. „Weil „Dorf“ auf Bangkok nicht mehr passt“, sagt Noi, „sprechen wir Thais nur noch von Krung Thep.“

Vom Long-Tail-Boot aus geben die glänzen­den Goldtürme und Kuppeln auf dem Gelän­de der Königlichen Insel eine atemberauben­de Silhouette ab. Da ist der Wat Phra Keo, der gleich 1784 für den kleinen Smaragd-Buddha, Thailands Nationalheilig­tum, auf einer Fläche von 3.000 Quadratmetern gebaut wurde und mit seinen prächtigen Pavillons, mythologischen Skulpturen und detailverliebten Wandfresken ganze Hundertschaften von Gläubigen und Touristen anlockt. Kaum spürbar ist der Übergang zum „Großen Palast“ des Königs, der eine zehnmal größere Fläche als der Tempel besetzt. In die Riege der Türme fügen sich auch die des Wat Pho, ältester Tempel Bangkoks und Heimstätte des „liegenden Buddhas“, und - auf der Thonburi-Seite - des Wat Arun, der „Tempel der Morgenröte“, der als der schönste Sakralbau des Landes gilt. Die meisten Sehenswürdigkeiten der Altstadt sind leicht per Boot zu erreichen.

Auf der Altstadtinsel selbst sind Klongs heute kaum noch zu finden. Rama V. war der erste König, der um die Jahrhundertwende nach Europa reiste und dem Land nicht nur die Öffnung nach Westen, sondern auch technischen Fortschritt wie motorbetriebene Fahrzeuge mitbrachte.  Vor gut fünfzig Jahren wurden die ersten Klongs zugeschüttet, um für den schnell anwachsenden Autoverkehr Straßen zu schaffen. Das Heer der Holzboote wich allmählich den Autos und dreirädrigen Tuk-Tuks. Doch die flotte Fortbewegung auf dem Wasser scheinen immer mehr Thais als Alternative zum stockenden Straßenverkehr heute wieder entdeckt zu haben. Wie Noi schon sagte – wenn der Fluss steigt, frisst der Fisch Ameisen.

Süddeutsche Zeitung
© Beate Schümann

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