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5. Der Wolf und die Mönche

Wer an die Heimat des Wolfs denkt, dent an Russland, Rumänien oder Kanada. Doch auch in Südamerika gibt es eine Spezies, die diesen Namen trägt: den Mähnenwolf. Zwei dieser seltenen Exemplare schleichen jeden Abend um ein Kloster in Brasilien. Zur Freude der Mönche und der Touristen.

Die Nacht ist fast schwarz, der Himmel sternenklar. Nur eine Reströte des untergegangenen Sonnenballs zeichnet noch die Umrisse des 2000 Meter hohen Pico da Carapuça und der anderen Gipfel der Serra do Espinhaço nach. Vor dem Lazaristenkloster, das auf 1300 Höhenmetern mitten im brasilianischen Bergland von Minas Gerais liegt, breitet sich der Naturpark Caraça aus: mit Felsen, Wald, Flüssen und – einem kleinen Bestand der letzten einheimischen Wölfe.

Es ist totenstill. Unter dem Kirchenportal arbeitet eine schwach leuchtende Laterne gegen die Dunkelheit an. Ein Grüppchen von Touristen hat sich auf dem halbrunden Platz davor versammelt. Alle warten auf die wilden Wölfe, die sich von den Padres füttern lassen. Die lobos guará, wie die brasilianische Spezies heißt, sind vom Aussterben bedroht. „Vor einigen Jahren standen sie plötzlich halb verhungert vor unserer Kirche“, sagt Padre Sebastião, der Klostervorsteher und einer der letzten fünf Mönche, die das 1774 gegründete Kloster bewohnen. „Wir haben ihnen Fleisch gegeben, und sie kamen immer wieder.“ Heute leben im Caraça-Tal nur noch zwei, ein Männchen und ein Weibchen. „Aber sie vermehren sich hier nicht. Im Nachbartal und auch in Zentralbrasilien gibt es noch einige mehr.“ Wegen der unberührten Natur, der fast meditativen Einsamkeit des Klosters und der abendlichen Mähnenwolf-Show rennen die Touristen den Padres die heilige Bude ein. Sie reisen aus allen Teilen Brasiliens an, auch aus Europa. Tagsüber wandern sie oder besichtigen die Klosteranlage. Aber die Wölfe sind die eigentliche Attraktion der Gegend.

Padre Sebastião ist der, der nachts mit dem Wolf tanzt. Wenn die Dämmerung hereinbricht, verlässt er die Klosterküche mit einem Aluminiumbackblech voller Fleischbrocken. Er setzt es am Boden ab und schurrt das Metall mehrmals über den Marmor. Was für ein Geräusch! Es muss kilometerweit in den Wald dringen. Dann schickt der Priester in sonorem Flüsterton seinen Ruf hintendrein: „Guará! Guará, vém!“ Wolf, komm’ her! Die Stimme verhallt in der Finsternis. Ein Schaudern legt sich auf die Haut. Padre Sebastião lässt ein paar Minuten verstreichen, ehe er seine magisch klingende Aufforderung wiederholt. „Guará vém, vém!“

Der Wolf weiß nun, dass das Mahl bereitet ist. Gebannt starren die Zuschauer auf die fünfzehn Stufen der Klosterkirche hinunter, über die der Wolf heraufkommen soll. Kommt er oder kommt er nicht? Der Mönch wiederholt die Zeremonie. Nichts passiert. Vom lobo-guará ist nichts zu sehen, nichts zuhören. „Er kommt nicht jeden Abend, er lebt immer noch in der Wildnis“, erklärt der Padre Sebastião. „Meist kommt zuerst das Weibchen. Das Männchen ist scheuer.“ Er greift zum Blech. Wieder ertönen das markante Schurren und das „Guará, komm’!“

Die Einladung hat den Wolf erreicht. Vorsichtig lugt er um die Ecke der Klostertreppe. Allen stockt hörbar der Atem. Rio und der Zuckerhut, Salvador de Bahia und der Pelourinho, Samba, Carnaval und Candomblé – alles schon gesehen. Aber das!? Langsam, ein paar Schritte vor und ein paar wieder zurück, schleicht sich das fuchsbraune Tier mit den langen zierlichen fast schwarzen Beinen wie zum Angriff geduckt von Stufe zu Stufe. Gleichermaßen ängstlich und begierig, treiben Fresslust und Gewohnheit sie zu den Menschen.

Wieder scheppert das Aluminium. „Es ist das Weibchen“, flüstert der Padre. In hohem Bogen wirft er ihr ein Stück Fleisch entgegen, das mit einem saftigen „Platsch!“ zu Boden fällt. Die Wölfin schleicht wachsam um sich blickend heran, schnappt nach dem Leckerbissen und zieht sich sofort zurück. Sogleich lockt der Padre: „Guará!“ und ein Stück Fleisch samt Knochen fliegt hinterher. Wieder dieses „Platsch!“ Die Wölfin dreht sich um, geht dem Padre vorsichtig entgegen, blickt in die Runde der Zuschauer, packt das Fleisch mit den Zähnen, stellt sich aufrecht hin und zerknackt den Knochen.

Wieder saust ein Stück zu Boden. Die Wölfin stellt die riesigen Ohren auf, senkt den Kopf, schnappt es sich und stürmt auf die Treppe zu, horcht auf, nimmt zwei, drei Stufen und kommt wieder zurück, weil Padre Sebastião noch einmal mit dem Tablett gescheuert hat. Er wirft einen großen Happen in die Luft und sie springt sogar danach. Dann verschwindet die Wölfin. Alle sind fasziniert.

Am nächsten Abend sitzen die Gäste der 50 Klosterzellen, Zimmer und Suiten an den langen Esstischen der Klosterküche und erzählen von den Wandererlebnissen des Tages. Tischsprache ist Englisch. Der Naturpark Caraça mit seinen über 11 000 Hektar Bergland entpuppt sich als ideales Wandergebiet mit Höhenunterschieden von 1200 bis 2000 Metern, die teilweise Kletterkondition und ebensolche Ausrüstung erfordern.

Zwei Brasilianer aus Recife und São Paulo schwärmen vom Aufstieg zum 2.032 Meter hohen Pico do Inficionado und zur Quarzmine. Ein Deutscher war über die Grotten von Lourdes bis zum Gipfel vom Pico da Carapuça gestiegen. Ein holländisches Pärchen hatte begeistert die vielen Wasserfälle und natürliche Wasserbecken ausfindig gemacht. Die im Kloster Gebliebenen waren von Bruder Eugénio durch die Anlage geführt worden, in den Kreuzgang, die neogotische Kirche mit dem berühmten Barockgemälde von Ataíde, das Museum und durch die Klosterruinen, die ein Brand im Jahr 1968 hinterlassen hatte. Die fast vollständige Zerstörung des Klosters war auch das Ende des 1821 gegründetes Colégio Caraça. Fast die ganze brasilianische Elite war hier zur Schule gegangen - zwei Präsidenten, achtzehn Staatsgouverneure, zig Abgeordnete und Senatoren.

Die weißbekittelten Kochfeen braten unterdessen auf Gästewunsch Spiegeleier ohne Pfanne direkt auf dem alten Eisenherd. Sie legen große Nachschläge an Reis, geröstetes Maniokmehl, Bohnen und geschmortes Zicklein auf die Teller, als plötzlich einer schreit: „Der Wolf ist da!“ Sofort rennen alle zum Kirchenportal. Da steht er wieder, der lobo-guará und streckt sich nach dem Fleischbrocken, den Padre Sebastião ihm entgegenhält. Das spannende Schauspiel wiederholt sich. Diesmal jedoch nur kurz, weil einem Gast vor Aufregung die Kamera aus der Hand fällt. „Guará!“ ruft der Padre noch. Doch der Wolf ist schon in der Dunkelheit verschwunden.

Sonntag Aktuell
© Beate Schümann

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