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14. Kleiner Mann über Bord

Im Kampf gegen Wind und Wellen zu sterben – das wirkt wenigstens heroisch. Aber beim Pinkeln ins Wasser fallen? Nun, es passiert aber recht oft.

Sie hieß Mary-Anne, und sie war sein Schicksal. Von dem Segeltörn mit der schnittigen Yacht kam der Seebär, der auf allen Ozeanen zu Hause gewesen war, nicht wieder zurück. Seine angespülte Leiche wurde Tage später am Strand gefunden – ohne Hosen.

Pinkeln von der Reling: eine grausam banale Todesursache. Aber auch eine häufige – selbst wenn das peinliche Thema unter vielen Seglern hartnäckig verdrängt wird. „Es kommt immer wieder vor, dass wir angetriebene männliche Wasserleichen ohne Hose oder mit offenem Schlitz an unseren Küsten finden“, berichtet Ingo Ohrt von der Wasserschutzpolizei in Kiel. „Wenn wir die so bergen, können wir ziemlich eindeutig sagen, dass sie beim Pullern über Bord gegangen sind.“ Mit diesem fatalen Zusammenhang sieht sich auch Norbert Lange, der das Organisationskorps der Cuxhavener Wasserschutzpolizei leitet, bisweilen konfrontiert: „Vor einigen Jahren ist bei der Kugelbarke eine Wasserleiche angeschwemmt worden. Der hing das Corpus delicti noch aus dem offenen Hosenschlitz heraus.“

Unter Seglern kursiert gar der Satz, dass mehr Leute beim Pinkeln außenbords gehen als beim Manöver. Und oft mit tödlichem Ausgang.

Ein Hauch von Horror umweht diese Geschichten. Wirklich belegen lassen sie sich selten. Was aber keineswegs heißen muss, dass sie nicht passiert sind und weiter passieren. Denn eben, das bestätigt auch das Seeamt Nordwest in Emden: Pinkel-Unfälle werden, wenn nicht völlig verschwiegen, so doch verschleiert und amtlich umdeklariert. Auch die Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamts, die für 1998 sechzehn Ster­befälle und für 1999 mehr als doppelt so viele (nämlich 38) tödliche Unfälle durch Ertrinken und Untergehen in Verbindung mit Wasserfahrzeugen auf deutschen Gewässern ausweist, differenziert da nicht weiter. Rund 80 Prozent der tödlich Verunglückten sind Männer, und dieser Befund lässt sich nicht nur damit erklären, dass Segeln ohnehin ein überwiegend von Männern ausgeübter Sport ist.

Jeder Skipper, dessen Boot kein Klo hat, ob er mit Crew oder allein segelt, kennt das Problem, über das niemand gern spricht. Und selbst dort, wo es stilles Örtchen gibt (meist in Form einer Chemie-Toilette) gibt, ziehen die meisten Männer fürs kleine Geschäft die offene Reling dem engen Kabuff vor, schon weil Mann in diesem Fall nicht so genau zielen muss. Pure Faulheit, findet denn auch Jürgen Feyerabend, der Leiter der Kreuzer-Abteilung beim Deutschen Seglerverband (DSV): „Obwohl jeder um das Risiko weiß, siegt fast immer die Bequemlichkeit.“

Das lässt sich freilich schon ein wenig nachvollziehen: Was Landratten auf festem Boden wie im Schlaf erledigen, soll auf See zur Zirkusnummer werden? Wenn’s ums Pinkeln geht, treiben auch bei erfahrenen Seemännern Sicherheitsaspekte aus dem Blick. Erschwerend kommt hinzu, dass die bevorzugte „Schussrichtung“ nach Lee über Bord geht, der dem Wind abgekehrten Seite, wo man bekanntlich am schnellsten über die Kante fällt.

„Du stehst an der Seereling am Bug oder am Heckkorb“, beschreibt Uwe Jahnke vom Warnemünder Segelclub die Situation, „sollst dich gleichzeitig festhalten und die Notdurft verrichten. Das Boot hat womöglich ne schicke Schräglage und tanzt munter über die Wellen. Und dann soll alles möglichst schnell gehen, weil du sowieso schon viel zu lange gewartet hast.“

Ein hochkomplizierter Balanceakt, zumal es mit dem Pinkeln allein dabei nicht getan ist. Um der brusthohen Latzhose den Weg nach unten frei zu machen, entledigt sich der von seiner Not Getriebene zunächst einmal seiner Schwimmweste - der erste Schritt ins Malheur, auch wenn der in der Theorie nach vermeidbar wäre: „Overalls oder Seglerhosen mit Schlitz gibt es zwar“, erklärt Uwe Jahnke. „Sie sind aber unbeliebt, weil immer Wasser hineinläuft oder der Reißverschluss hakt.“

Also Öljacke auf, Hosenträger los, auf die vielleicht 80 Zentimeter breite Reling steigen und die sperrige gelbe Hose auf die Knie runterzerren. Schamhaft blickt die Crew in die entgegen gesetzte Richtung des Entblößten, der sich gerade in eine recht hilflose Lage manövriert hat. Weil er die so schnell wie möglich wieder zu verlassen trachtet, denkt ein derart gehandicapter Pinkler kaum je daran, sich jetzt seiner Sicherheit zuliebe umständlich anzuleinen. Und hat er’s doch geschafft, klagt ein Kieler Jollenbesitzer, „knallt das Schiff garantiert in eine Welle, so dass man eine ordentliche kalte Dusche abbekommt und ins Wanken gerät.“ Bei schwerer See kann es gar passieren, dass ein Brecher den Seemann von den Beinen holt und ihn wie eine Puppe durch die Luft schleudert.

Doch damit nicht genug. Die ärgste Gefahr drohe, so der Segler Ingo Ohrt, wenn das eigentliche Geschäft erledigt ist. „Dann lässt man die Want los, an der man eben noch Halt hatte, um sich wieder zuzuknöpfen.“

Klar ist: Wer in diesem Zustand, in dem offene Schwimmweste und hängende Hosen die Bewegungsfreiheit weitgehend blockieren, die Hand Schiff lässt, handelt ungefähr so irrsinnig wie einer, der sich mit Badelatschen aufs Matterhorn wagt. Dennoch ziehen ausgerechnet die alten Hasen den bequemen Weg an der Reling vor – schließlich, so Wolfgang Niemann vom Hamburger Fachverband Seenotrettungsmittel, ist die Routine „der größte Feind der Sicherheit an Bord.“ Sicherheit hat viel mit Sicherheitsbewusstsein zu tun, genauer: mit dem Bewusstsein der eigenen Unsicherheit.

Das beginnt schon bei den notorischen Problemen vieler Segler mit der Schwimmweste. Die zu tragen sollte so selbstverständlich sein wie das Anlegen des Sicherheitsgurts im Auto. Dennoch besteht jedenfalls für Freizeitsegler keine generelle Tragepflicht.

Zudem ist es kein Geheimnis, dass an Bord viel Alkohol fließt, auch wenn dessen Konsum zumindest für Schiffsführer und Rudergänger verboten ist. Alles Theorie. In der Praxis sind vor dem Sundowner am Abend tagsüber meist schon mehrere Kisten Bier weggegangen. Aber nicht nur der Alkohol, auch der Kaffee, das andere beliebte Törngetränk, erzeugt starken Harndrang. Und: „Wat de Minsch mit Arm und Been nich holln kann, dat möt rut“, sagt der Volksmund an der Ostseeküste.

Dummerweise droht dabei gerade aus dem Gefühl der Erleichterung höchste Gefahr, weiß Harald Bennefeld, Chefarzt an der Heinrich Mann Klinik in Bad Liebenstein und selbst erfahrener Segler. „Bei Patienten mit einer sehr großen Blasenfüllung steigen Herzfrequenz und Blutdruck stark an, gehen aber sofort nach der Entleerung deutlich zurück. Nach dem Wasserlassen wird deswegen das Gehirn kurzzeitig nur noch schwach durchblutet. Das führt bei empfindlichen Menschen zu mehr oder weniger starkem Schwindel und dadurch zum Sturz. Naturgemäß wirkt sich der Schwindel im Stehen stärker aus als im Sitzen, da das Kreislaufsystem noch mehr arbeiten muss, um Blut ins Gehirn zu pumpen.“

Und natürlich kommt zur Physiologie noch die simple Psychologie. Kaum ist nämlich das Geschäft erledigt, lässt die Wachsamkeit nach. Und der Stehpinkler fällt, wenn er Pech hat, ins Wasser, noch während er mit beiden Händen seine Hose festhält.

Klar, „ins Wasser fallen“ sagt man nicht in Seglerkreisen. Man sagt: „Mann über Bord.“ Und auch, wenn dieser Ruf für Landratten leicht nach komischem Slapstick klingt – „über Bord gehen ist meist tödlich“; auf diese kurze Formel bringt es Jürgen Feyerabend vom DSV.

Die Hektik, die entsteht, wenn der Notruf „Mann über Bord“ erschallt, lässt sich vom trockenen Land aus kaum beschreiben. Die ersten, kostbaren Sekunden sind in der Regel schon vergangen, wenn die Mitsegler sich aus der Starre des ersten Schrecks gelöst haben. Und dann sitzen plötzlich die einfachsten Handgriffe nicht mehr, verknäueln sich harmlose Reepschnüre zu Knotenmonstern und einfache Kommandos zu Missverständnissen - das Chaos mündet in die Katastrophe.

Als tödlich erweist sich häufig die unterschätzte Wassertemperatur von Ost- und Nordsee, die zu Beginn der Segelsaison gern bei unter 10 Grad liegt. Faustregel: Pro Grad Celsius über Null überlebt ein Außenbordsgegangener drei Minuten. So wird das Rettungsmanöver zum Rennen gegen die Zeit. Wird es eingeleitet, hat sich das Boot oft schon so weit entfernt, dass ein Kopf in bewegter See, bei schlechter Sicht oder womöglich bei Dunkelheit nicht leichter zu finden  ist als die Stecknadel im Heuhaufen. Ja, selbst bei guter Sicht lässt sich der Kopf eines Schwimmers zwischen den Wellen allenfalls bis zu einer Distanz von 20 bis 30 Metern ausmachen.

Das Überleben im Wasser hängt von mehreren Faktoren ab“, erklärt Alleinsegler Hofrich­ter. Konstitution, Bekleidung, Stoffwechsellage, Alter, mögliche Vorerkrankungen spielen eine Rolle und natürlich die Qualifikation der Beteiligten. Kaum einer Frau und nur den wenigsten Männern gelinge es, einen außenbords gegangenen Menschen wieder ins wankende Boot zurückzuziehen.
Trotz alledem: Über das Thema „Pinkeln an Bord“ zu diskutieren, halten die meisten Wassersportler nach wie vor für imageschädigend. „Eimersitzer“ gelten konsequenterweise als die Warmduscher unter den Seglern. „Unmännlich“, urteilt ein Jollenbesitzer barsch - „das machen nur unsere Frauen.“

Immerhin, auch harten Männern und Männerbleibenwollern bietet sich wenigstens eine Möglichkeit, dem letzten Endes ja auch nicht direkt rühmlichen Pinkeltod zu entgehen, die der knallharten Regattasegler nämlich: Die pinkeln im Fall des Falles einfach in die Hose.

Süddeutsche Zeitung

© Beate Schümann


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