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20. Verlassen in den Bergen

Ein EU-Programm will den alten Dörfern der portugiesischen Beiras helfen

Kaum haben wir den schmalen, dicht bevölkerten Küstenstreifen jenseits der alten Universitätsstadt Coimbra hinter uns gelassen, tauchen wir ins portugiesische Hinterland ab, in die Beiras, wie die gebirgigen Provinzen heißen. Beira bedeutet „Rand“. Schon der Name verweist auf ihre abgeschiedene Lage und trifft die Verhältnisse genau. Die Leute hier sagen, dass weder Christus noch die Nelkenrevolution noch der Fortschritt den Weg zu ihnen fanden.
Der Wald der Serra da Lousã wird dichter, urwüchsiger, die Straßen kurviger und steiler. Je weiter wir gen Osten steuern, desto gottverlassener, weltabgewandter erscheint uns die Gegend. Immer seltener kommen uns Fahrzeuge entgegen. Wir passieren Berglandschaften aus uraltem Gestein, Flusstäler, die sich zwischen Schiefer und Granit gegraben haben, abenteuerliche Moränengebilde, Eichen- und Kiefernwälder, die noch nicht von Eukalyptus-Monokulturen verdrängt worden sind. Wir fahren von Tal zu Tal, und kein Haus, kein Stall zeugt von menschlichem Leben. Geisterhaft liegt eine Siedlung im Grünen. Fenster und Türen sind vernagelt, die Dachziegel eingestürzt, die Mauern verfallen - der Wind hat freie Bahn. Trauerdeponien der Gegenwart. Der Mensch hat der Natur das Feld überlassen, das Hinterland entleert sich.

Hinter einer Serpentine wird von weitem Piódão sichtbar, eines der schönsten und ältesten Bergdörfer Portugals. Dicht an dicht gedrängt, stehen die schwarzen Häuser wie Schafe bei Gewitter. Zu zweistöckigen Mauern sind die dunklen Platten aufgetürmt, die die Bergbewohner vor Generationen aus dem Schiefer der Serra de Açor geschlagen haben. Die Dächer sind spitz, Sprossenfenster und Türen in frischem Weiß oder Kornblumenblau lackiert. Eine in dieser gebirgigen Gegend eigenartig bürgerlich wirkende Architektur.
Mit dem Berg Montes Hermínios gehen die Natursteinhäuser eine heilige Allianz ein, schmiegen sich an seinen steilen, terrassierten Hang und gruppieren sich harmonisch um den kleinen Marktplatz wie ein Amphitheater. Der Anblick verschlägt einem den Atem.

Der Verfall schien bis vor kurzem auch Piódãos sicheres Schicksal zu sein. Niemandem wollte es recht gelingen, den Bergfels in eine blühende Landschaft zu verwandeln. Früher lebte man hier von Schaf- und Ziegenzucht. Doch das ernährt schon lange niemanden mehr. Die serranos, die Bergbewohner, flohen aus dieser widerborstigen Gegend. In den 150 Häusern Piódãos lebten laut der letzten Volkszählung von 1991 noch 126 Einwohner. Inzwischen soll sich die Zahl halbiert haben.

Denn kaum waren mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der achtziger Jahre die ersten Fernsehantennen montiert, drangen Bilder von paradiesischen Zuständen in die Wohnzimmer der Not leidenden Bergbewohner. Kaum waren sie an die mit EU-Hilfe neu gebauten Schnellstraßen angeschlossen, packten die Jungen und Kräf­tigen ihre Sachen, schnür­ten sie auf das Moped und knatterten in Richtung Küste davon. Entschließt sich heute ein Junger gegen den Trend in seinem Dorf auszuharren, sind sogleich Journalisten zur Stelle, um den komischen Kauz zu interviewen.

Das soll nun anders werden. Finanziell unterstützt von der EU, wurde 1994 das Programm zur Erneuerung der Historischen Dörfer (Programa de Recuperação de Aldeias Históricas de Portugal) entwickelt, eine Gemeinschaftsproduktion des Planungsministeriums, des Ministeriums für Wirtschaft und Tourismus und der beteiligten Gemeinden. Zehn der schönsten, aber nahezu entvölkerten Bergdörfer im Umfeld der Serra de Estrela, Portugals höchstem Gebirge, wurden per Gesetz zum nationalen Kulturgut erklärt und unter Denkmalschutz gestellt. Piódão gehört dazu, Monsanto, Almeida, Castelo Mendo, Castelo Novo, Castelo Rodrigo, Idanha-a-Velha, Linhares da Beira, Marialva und Sortelha. Neugeschaffene Arbeitsplätze, die verbesserte Infrastruktur und die Förderung des Tourismus sollen sie wirtschaftlich beleben und für junge Leute wieder lebenswert machen. Ein Kühlschrank darf angeschafft werden, aber die auf Staatskosten stilgetreu restaurierten Fassaden und das Hinterwäldlerambiente sind tabu. Ihr Reiz ist es, der großstadtgestresste Urlauber in die einsame Gegend führen soll.

„Der Staat hat uns betrogen“, eröffnet die alte Maria unumwunden, aber leise, damit es der Besitzer des Cafés nicht hört, in dem sie ihre geschwollenen Beine ausstreckt. „Von dem Programm profitiert nur, wer am Marktplatz ein Café hat - und davon gibt es zwei.“ Mehr will sie nicht sagen.

In dem einen Café am prachtvoll erneuerten Marktplatz sind wir sind die einzigen Gäste, das Café gegenüber ist leer. Nachdem Maria vor weiteren neugierigen Fragen schleppend über das Kopfsteinpflaster entflohen ist, kauern nur noch zwei schwarz gekleidete, hagere Frauengestalten auf den unteren Stufen zur gerade in frisches Kalkweiß getauchten Pfarrkirche. Drei Viertel der Bevölkerung in Piódão sind über sechzig Jahre alt, die meisten sind Frauen.

Wir schlendern durch das Dorf, steigen mühsam die steilen, engen Gassen zwischen den hübschen Schieferhäusern nach oben. Schnaufend holt uns ein Mann mittleren Alters ein. Er trägt einen Eimer, randvoll mit Trauben für die Weinproduktion. Wie früher werden die Lasten mit Händen geschleppt. Wie schaffen die alten Menschen das bloß? Einige Handwerker sind damit beschäftigt, ein Haus instand zu setzen. Sonst sind Männer in Piódão kaum zu sehen.

Auf einer Steinstufe sitzen die Ziegenhirtinnen Elvira und Purificação, beide etwa Mitte Sechzig. „Man kann hier nicht leben und nicht sterben“, beklagt sich Purificação bitter. „Der Staat gibt mir eine Monatsrente von 200 Mark. Davon soll ich essen, mein Rheuma heilen und das Dach reparieren, wenn es von innen kaputt geht; der Staat zahlt nur die Außenreparaturen.“ Die mollige Elvira, die beim Lachen ihre große Zahnlücke zeigt, sieht das aber genauso. Mit ihrer 10 Mark höheren Rente steht sie nicht besser da. „Die wichtigen Leute“, sagt sie, „schreiben uns vor, wie unsere Fassade auszusehen hat. Aber wie wir da drinnen leben, interessiert sie nicht. Die Touristen kommen, staunen und fahren wieder weg. Die kennen die Kälte des Winters nicht.“

Das Programm hat alle überrascht. Der Denkmalschutz kam per Gesetz. Keiner in Piódão oder einem der anderen neun Dörfer war nach seiner Meinung gefragt worden. Zunächst sahen alle in der Modernisierung eine Chance auf verbesserte Lebensverhältnisse. Doch heute genügt es, das Wort „Programm“ nur auszusprechen, schon verdüstern sich die Mienen. Hinter ihrer pittoresken Fassade fühlen sich viele zur Stagnation verdammt.

Der Dorflehrer Ricardo, 35 Jahre alt, hatte in Lissabon gearbeitet, kam aber wegen der Förderung in sein Heimatdorf zurück. „Anfangs hat mir das Projekt gefallen. Aber es hapert mit der Umsetzung.“ Er gibt der Bürokratie die Schuld. Seit 1994 hätten die Bewohner von Piódão rund 20 Anträge für die Eröffnung von Pensionen und Restaurants eingereicht, so Ricardo, aber davon sei bis heute kein einziger abschließend bearbeitet. Ricardo will mit seiner Familie in Piódão bleiben. Doch an den Erfolg des Programms glaubt er nicht mehr.

Selbst mancher Tourismusstratege ist skeptisch geworden, ob das Ziel, die Entvölkerung des Binnenlandes zu bremsen, auf diesem Wege erreicht werden könne. Für Marli Monteiro, Marketing-Leiterin der regionalen Tourismusbehörde in Coimbra, gibt es keinen Zweifel an der kulturhistorischen Bedeutung der „Aldeias Históricas“. Aber einige Basisdaten des Programms, wie die Verbesserung der Infrastruktur, seien noch nicht erfüllt. „Bis Ende 1996 hätten in Piódão die Abfallbeseitigung und die Klärung verunreinigten Wassers geregelt sein sollen. Eine aufwendige Tourismusinformation neben der Kirche ist im Bau, aber die Frage der Abwässer ist noch nicht einmal in Angriff genommen.“

Dem Problem der Entvölkerung könne nur mit begleitenden Maßnahmen begegnet werden. Um über den Erfolg des Programms zu urteilen, sei es allerdings noch zu früh. Bedauernswert sei, dass die Privatinvestoren, mit deren Aktivitäten man fest gerechnet hatte, sich bislang sehr zurückgehalten hätten.

Piódão trägt die Züge eines lebendigen Museums. Wenn erst die alten Bewohner den Gang allen Irdischen gegangen sind, wird es ein echtes werden. Auf dem Weg zurück zum Marktplatz zieht Elvira mit ihren Ziegen an uns vorbei - die Fröhlichkeit ist aus ihrem Gesicht gewichen. In der Kirche, die gerade einen neuen Holzfußboden bekam, den niemand im Dorf wollte, häkelt die betagte Wärterin weiße Tischdeckchen, die sie für ein paar Escudos an Touristen verkauft. „Wir leben hier wie im Mittelalter. Der neue Holzboden ist nur für die Touristen.“ Sie lächelt gottergeben und fügt hinzu „So ist das Leben.“ 

Die Zeit

© Beate Schümann


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